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[Bisher weitgehend unbekannter, vermutlich letzter] Brief Erich Honeckers [an Genossen der DKP, in: ›RotFuchs‹]


 

Nicht den Blick trüben lassen!

Genossin Margot Honecker übersandte dem ›RotFuchs‹ aus Santiago de Chile einen bisher nicht veröffentlichten Brief des Genossen Erich Honecker, den dieser am 17. Juli 1991 aus Moskau an zwei in der Solidaritätsarbeit besonders aktive Genossen der DKP - Werner Cieslak (Essen, inzwischen verstorben) und Heinz Junge (Dortmund) - gerichtet hatte. Er war durch Signum Erich Honeckers ab 1. Dezember 1991 ›zur Verwendung freigegeben‹ worden. Die Genossen Cieslak und Junge hatten das historisch bedeutsame Dokument damals weitergereicht, ohne daß es nach unserem Wissen bisher publiziert wurde. Genossin Margot Honecker autorisierte uns nun in einem Brief an die Genossen Lena und Kurt Andrä, das Schreiben der Öffentlickeit zugänglich zu machen.

... Im Grunde genommen sind wir doch schon eine große ›Partei‹, eine Partei mit Perspektive. Dafür dürfen wir uns den Blick nicht trüben lassen, auch wenn die Lage jetzt schwierig ist. Es gibt Parteien, die haben mit weniger Mitgliedern angefangen. Was will ich damit sagen? In der gegenwärtigen Situation können wir nicht damit rechnen, daß die ›Massen‹ zu uns kommen. Die SED war eine Massenpartei. Über zwei Millionen hatten etwas von Marx, Engels und Lenin gelesen. Man neigt heute dazu, das zu bezweifeln, aber es war so. Heute, wo wir in die Tiefe geschleudert wurden, sind es nur noch wenige, die sich offen zu Marx bekennen. Einige zweifeln und es waren wohl viele, die uns, wenn wir über die Schattenseiten des realen Kapitalismus und seine Ausgeburt, den Faschismus, sprachen, nicht so recht glaubten. Jetzt, nachdem die westlichen Werte allem ‹übergestülpt‹ wurden, stellt zumindest ein Teil der Menschen zu seinem Erschrecken, zu seinem Entsetzen und aus Enttäuschung fest, daß seine Träume, oder besser, seine Illusionen nicht aufgehen, sondern daß schlicht und einfach das Geld regiert. ...

Unsere Träume, meine und Eure, von einem Deutschland, in dem der Schwur der Überlebenden von Faschismus und Krieg verwirklicht sein wird, gingen nicht in Erfüllung. Wir wissen warum. Ihr und wir sind dafür eingetreten, daß das Potsdamer Abkommen der Alliierten in ganz Deutschland verwirklicht wird. Ich erinnere mich gut. Max Reimann erhob als Vertreter der KPD im Parlamentarischen Rat seine Stimme gegen die Gründung des Separatstaates. Leider konnten wir es nicht verhindern, daß Deutschland in zwei Staaten gespalten wurde, da schon alles festgelegt war: Die Bildung der Bizone, der Trizone und die separate Währungsreform. Viele von uns, ob sie hüben oder drüben gearbeitet haben, kennen das alles sehr genau, bedeutend besser als die, die jetzt darüber schreiben – oft aus Unkenntnis und meist mit der Absicht, die Wahrheit zu entstellen. Es wird nicht aus der Welt zu schaffen sein, daß auf deutschem Boden, in der so beschimpften und verleumdeten DDR, der einzigartige große Versuch unternommen wurde, dem Sozialismus in Deutschland eine Heimstatt zu schaffen. Trotz allem Dreck, der auf die DDR mit ihrer ›40jährigen Mißwirtschaft‹ geschleudert wird, werden die Menschen eines Tages wieder stolz darauf sein, Bürger der DDR, des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates, gewesen zu sein. Jetzt werden die Bürger geschreckt und erschreckt mit dem ›Stasi-Wahn‹. Wut, Enttäuschung, Haß, alles soll auf die Stasi geladen werden, die gewissermaßen als Synonym für das sozialistische ›Regime‹ stehen soll. Ihr wißt am besten, daß sich wohl der Bonner Verfassungsschutz, der BND und der MAD angesichts dessen, da sie ja vor allem die Schauermärchen über die ›Opfer und Täter‹ in die Welt gesetzt haben, eins ins Fäustchen lachen. Wenn man die Akten über die 7 Millionen BRD-Bürger veröffentlichen würde, die dort bei den Geheimdiensten gelagert sind, gäbe es sicher ein großes Erwachen. Aber solches zu tun, ist ja jetzt tabu, das steht nur den ›Siegern‹ zu.

Mit Interesse, das könnt Ihr Euch vorstellen, habe ich das Referat auf dem Parteitag der DKP gelesen. Besonders aufschlußreich fand ich die Einschätzung der heutigen Weltlage und der Situation in Deutschland, vor allem die in diesem Zusammenhang getroffene Feststellung, daß sich ›die bedrückenden Auswirkungen des Anschlusses der DDR ... in erster Linie aus dem kapitalistischen Charakter der 'Anpassung' der bisherigen DDR-Wirtschaft an die bundesdeutschen Kapitalinteressen, aus der imperialistischen Art der Vereinnahmung der neuen Ostprovinzen durch das bundesdeutsche Finanzkapital ergeben.‹ Das ist eine wirklich zutreffende Einschätzung. Man wird, darüber bin ich mir im Klaren, große Mühe haben, gerade das den Menschen bewußt zu machen, denn das heißt, gegen den Strom zu schwimmen, da doch alle politischen Kräfte, mit Ausnahme der DKP, sich gemüßigt fühlen, die DDR, die SED zu verteufeln, sie für die entstandene Lage in erster Linie verantwortlich zu machen.Täglich hämmert man den Menschen ein: Das System ist schuld. Die Roten zu verteufeln, das war schon nach der Oktoberrevolution gang und gäbe.

Heute las ich in der FAZ den Bericht ›Der leise Triumph‹ über die Tagung der Sozialistischen Internationale in Frankfurt. Diese war der Wiedergeburt der Sozialistischen Internationale gewidmet, die im Krieg untergegangen war. Da sich die Welt im Jahre 1951 tief im Winter des Kalten Krieges befand, war der demokratische Sozialismus als Kampfbegriff in der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Regimes und Parteien geboren worden. Bisher jedoch gibt es kein Land, in dem unter der Führung der Sozialdemokratie irgendein Sozialismus aufgebaut wurde. Gegenwärtig ist wohl nicht zu übersehen, daß in der SU starke Kräfte wirken, die das Rad der Geschichte zum Kapitalismus zurückdrehen wollen. ...

Aufgrund der Ereignisse 1989/90 dürfen wir den Kopf nicht hängen lassen, da teile ich ganz Eure Meinung. Man darf nicht außer Acht lassen, davon ist auch hier mehr und mehr die Rede, daß der amerikanische und andere westliche Geheimdienste seit über 20 Jahren planmäßig auf eine solche Situation hingearbeitet und auch Personen aufgebaut haben, denen sie im Leben der sozialistischen Länder eine besondere Rolle zuschrieben, die sie beim Umbruch zu spielen haben. Im Zusammenhang mit den eigenen Schwächen muß man die zielbewußte Arbeit der westlichen Geheimdienste beachten, die ihre langfristige Wirkung ganz offensichtlich nicht verfehlte. Vielleicht waren wir alle auch nicht wachsam genug.

Es ist wohltuend, daß Euer Parteitag nicht oberflächlich an die Analyse der Niederlage des Sozialismus herangegangen ist, sicher auch im Wissen darum, daß gegenwärtig niemand in der Lage ist, auf die vielen offenen Fragen eine Antwort zu finden. Es ist zu billig, für die Niederlage des Sozialismus seine wie auch immer gearteten Modelle allein verantwortlich zu machen. Das läuft letztlich darauf hinaus, was in der Geschichte so neu nicht ist, unsere Idee aus der Welt verbannen zu wollen. Es stand schon an der Wiege der kommunistischen und Arbeiterbewegung, die Bürger zu schrecken, siehe ›Ein Gespenst geht um, das Gespenst des Kommunismus‹; es setzte sich fort mit der Verteufelung der jungen Sowjetmacht , der ›Gefahr der Bolschewisierung‹, dieser Parole, die ihren Höhepunkt in der Zeit des Faschismus fand. Heute wird das logisch fortgesetzt mit der Verteufelung des Sozialismus als undemokratisch, als stalinistisch. Stalinismus wird mit Faschismus gleichgesetzt, ein Versuch, den Faschismus reinzuwaschen.

Die DKP ist ja nun die einzige Partei, die die Gegenwartsaufgaben so konkret in den Vordergrund des Kampfes gerückt hat und mit einer klaren antikapitalistischen Position für die Erneuerung der Bundesrepublik eintritt. Es ist sicher schwer, sich freizumachen von der ›Verteufelung des Sozialismus in der DDR und deren Trägern‹ sowie den verhängnisvollen Folgen, die diese Verunglimpfung in den Köpfen der Menschen angerichtet hat. Aber wird es auf die Dauer richtig sein, hier auszuweichen, zu schweigen? Dieser Sozialismus, mit allen seinen Fehlern und Schwächen, war eine real existierende ‹antikapitalistische Gesellschaft‹; sie hat, ob man ihr das zugestehen will oder nicht, die elementaren entscheidenden Menschenrechte, für die wir Kommunisten eintreten, im Leben verwirklicht. Viele Parteien haben über ein Jahrhundert hinweg den Sozialismus in ihre Programme geschrieben, aber erst die SU, China, die mittel- und osteuropäischen Länder und Cuba nicht zu vergessen, haben ihn versucht, haben ihn gemacht. Und es ist ja in einigen Ländern noch gar nicht erwiesen, ob er nicht doch standhält. Ich stehe auf dem Standpunkt - so wie die Dinge sich entwickelt haben und wie sie sich vor allem entwickeln werden -, daß man Schluß machen muß mit der pauschalen Einschätzung und der Verurteilung des Sozialismus, wie er nun einmal war. Wie sonst sollen die Menschen in Ost und West wieder Vertrauen finden zu unseren Idealen, zu einer Partei, die als ihr Ziel erklärt: Gegen den Kapitalismus gibt es nur eine sozialistische Alternative. Ich sage ganz offen, weil die Lage so ernst ist, hier, weltweit und bei uns zu Hause: Man muß Schluß machen mit dem ›Verriß‹ der Vergangenheit, das macht doch der Gegner zur Genüge. In dieser Linie weiterzumachen, aus taktischen Gründen oder aus welchen auch immer - das vermag ich nicht zu beurteilen -, glaube ich, das schlägt letztlich gegen die Partei, das zeigen schon die Erfahrungen hier, oder sie werden es noch deutlicher zeigen. Und die PDS ist wohl auch gerade deshalb in die Sackgasse geraten.

Es ist sicher schwer, ein schwerer Weg für die Partei, Fuß zu fassen im Osten, und in Ost und West wieder vor allem in der Arbeiterklasse und unter den Jüngeren. Und sicher sollte man auch nicht auf die gestandenen Genossen verzichten, die ihre Heimat noch in der PDS sehen, und auch nicht auf die, die ehemals Mitglieder der SED waren; die werden ja ohnehin vom Gegner ausgegrenzt. Will man auch im Osten Fuß fassen, wird man wohl nicht an ihnen, an ihrem Befinden vorbeikommen; sie brauchen Orientierung, das sollte man nicht der eifrig darum bemühten Sozialdemokratie überlassen. Ihr versteht sicher richtig, das alles macht die Analyse der Probleme, Fehler und Schwächen unsererseits, die es, darüber bin ich mir im Klaren, dem Gegner ermöglichten, so frontal den Sozialismus in Osteuropa aufzurollen, nicht überflüssig. Aber ist es nicht das Gebot der Stunde, ehe es wieder einmal zu spät ist, alle die einzubeziehen, die bereit sind? Über die Schwelle muß man hinweg, d. h. alle die unangenehmen, in jedem Umsturz zutage tretenden Erscheinungen von Renegatentum, Feigheit, Opportunismus und Verrat dürfen uns nicht den Blick trüben, sonst kommt man aus der Defensive nicht heraus. Ja, wir wollen immer viele, wir wollen alle mitnehmen auf unserem Wege, aber das schließt auch Zeiten ein, da wir in Kauf nehmen müssen, daß mancher uns noch nicht versteht, daß viele, auch Genossen und Gleichgesinnte, nach dieser Flut von Vergiftung nicht gleich begreifen, warum wir so oder so handeln müssen, ja, daß sie uns vielleicht nicht gleich zustimmen werden. Aber es ist auch dies eine Lehre aus der jüngsten Geschichte: Wir Kommunisten dürfen uns niemals scheuen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie noch nicht gleich angenommen wird. ...

Herzliche kommunistische Grüße von Margot und mir
Erich

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